Geboren
wurde ich am 3.2.1944 in Bärwalde/Pommern im heutigen
Polen. Nach
Kriegsende zogen meine Eltern mit mir nach Berlin-
Kreuzberg in die Reichenberger
Str.22, Hinterhof, 2.Treppen
(Hof-Toilette). Wegen der Sowjet-Blockade
schickten mich meine
Eltern Gisela, geb. 2.10.1924 und Otto Nest, geb.
7.7.1918 von
1948 bis 1950 zu meiner Oma Anna Nest und Opa Herrmann Nest
zum "Gut Friedeburg" nach Schleswig-Holstein (Bellin/Plön). Es war
eine schöne Kindheit, mitten in der Natur, mit Füchsen, Hirschen,
Wildschweinen und Störchen - auf einem alten burgähnlichen
Bauernhof,
der einer Adelsfamilie gehörte.
Am
1.9.1950 war der Traum jäh und brutal zu Ende, - ich wurde in Berlin-Kreuzberg,
Kohlfurther Strasse, umgeben von Trümmern der Bombenangriffe, eingeschult!Ich
machte das Beste daraus, - bald machte
es mir Spaß in den Trümmern
zu spielen, - sehr zum Leidwesen meiner
Eltern. Meine Mutter nahm mich
frühzeitig mit in einen Turnverein
"Turnsport Süden" und später
ging ich noch bis 1958 in die Handball-
abteilung! Sport bestimmte schon
frühzeitig mein Leben, - als weitere
große Hobbys hatten es
mir die Tiermalerei und das Briefmarkensammeln angetan.
|
|

*
*
|
Am
1.4.1959 fing ich eine Lehre als Schriftsetzer bei Reimer Nachf. Kuhn,
Mehringdamm in Kreuzberg an.
Kreuzberg
war schon in den fünfziger Jahren nicht der friedlichste Bezirk
von
Berlin. Bandenwesen und Gewalttaten gehörten zum Tagesablauf.
Auch
ich, als 16-jähriger, wurde oft festgehalten, ausgeraubt, erpresst
und verprügelt! Damit sollte endlich Schluß sein, - ich wollte
mich endlich wehren können! Zum Ringen beim SC Lurich 02, wo mein
damaliges "Strassenidol" Peter Werner (später mehrfacher Berliner
und norddeutscher Meister) trainierte und zur NSF-Boxabteilung nach Neukölln
durfte ich nicht,- mein Vater war dagegen. Im April 1960 sah ich in der
Mariannenstraße
am Mariannenplatz in Kreuzberg auf dem Wege zur Berufsschule
ein merkwürdiges, interessantes Schild: >Judo-Club "Hata"< mit
einem Berg
als Hintergrund, - der Berg sollte den höchsten japanischen
Berg, den
Fuijyama darstellen. Das ich diesen Berg schon 9 Jahre später
selbst in
Japan sehen sollte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht
erahnen.
Doch dazu später mehr.
Ich
wußte nicht einmal, was Judo sein sollte. Von einem anderen Lehrling
meiner Firma, Wolfgang Scheufelein, hörte ich dann etwas von Jiu-Jitsu.
Er trainierte im Keller von Altmeister Erich Rahn (Hauptstraße),
der 1906
die asiatische Selbstverteidigung in Deutschland bekannt machte.
Ich
konnte von Erich Rahn noch eine Menge lernen!
Ich
traf dort auch u.a.: Peter Pawelz, Manfred Schmidt, Arnim Überschaer
und Peter Herrmann. Alle wurden später bekannte Judo-Kämpfer;
Peter Herrmann sogar mehrfacher Europa-Meister und Vize-Weltmeister. Jiu-Jitsu
und Judo hatten insgesamt einen geheimnisvollen Ruf: von "Würgen",
"Knochenbrechen" und "Werfen" war da die Rede ... - Mein Interesse
war geweckt. Ich beschloß mir beim JC HATA ein Training anzusehen!
Vorweg - ich war begeistert, obwohl mich der Hausmeister nicht gerade motivierte.
Er erzählte mir in etwa folgendes: Du wirst eh nicht lange bleiben
-
Du wirst ständig auf den Kopf geworfen und bekommst Kopfschmerzen
... Irgendwie war ich´s gewöhnt und somit abgehärtet,
also zäh geworden.
Auf der Matte sah ich jung und alt gemeinsam ´rumwirbeln.
Der Trainer -
Dieter Jordan - machte damals einen großen Eindruck
auf mich. Er besiegte
alle Teilnehmer mit Leichtigkeit in einem Reihenkampf.
So wollte ich auch werden!!!
Das
war
mein fester Wille ...
|
|
Lothars
erster Trainer
Dieter Jordan,
1.DAN - JC Hata
1960-1966
|
Die erste Stunde
Ich
kam als letzter aus dem Umkleideraum und stellte mich,
nachdem ich
die Dojo-Slipper, die Zori, abgestreift hatte, zu
den Anderen.
Wir
knieten auf unserer Matte und grüßten auf japanisch -
mit einer
leichten Verbeugung. Statt langer Reden
begann der Ausbilder sofort
mit Gymnastik. Manches war für
mich völlig neuartig und fiel mir
nicht leicht, aber der Ausbilder
sah
über die ungelenken Bewegungen hinweg - als sei es
selbstverständlich, dass alle Anfänger unglückliche Figuren
sind.
Ich
glaube, er ist so manchen Kummer gewöhnt. Die sich anschliessenden
Fallübungen bereiteten mir etwas Herzklopfen.
Staunend sah ich zum Trainer, der sich so elegant und schwere-
los abrollte. Doch unser
Trainer blieb freundlich und zwang keinen
zu artistischen
Leistungen.
Geduldig
zeigte er uns immer wieder, wie einfach und harmlos
ein Abrollen auf
der Matte ist. Die anfängliche Beklemmung wich
einer steigenden
Spannung, es selbst auszuprobieren. Und es
machte tatsächlich Spaß!
Ich hätte nie gedacht, wie
einfach das
Fallen zu erlernen ist, dass es überhaupt nicht
unangenehm ist.
"Erst wenn ihr gut fallen könnt, dürft ihr
euch
werfen", sagte der Trainer, "dann ist Judo völlig
gefahrlos. Der
Fall auf der Judomatte ist einfacher als ein Sprung
vom
Dreimeter-Brett. Man spürt den Aufprall überhaupt nicht, weil
Matte und
Körper federn."
Um uns zu beweisen, dass jenes uns so bekannt
donnernde Aufschlagen
eine falsche Vorstellung erweckt, ließ er uns
im
Liegen mit Hand und Unterarm energisch auf die Matte schlagen.
Es
klang, als ließen die kräftigsten Raumpflegerinnen des Landes
ihre
Wut an einem Riesenteppich aus.
Dabei spürte man überhaupt nichts.
.
|
|
.
|
Die
Fragestunde
Nach
der ersten Hälfte des Unterrichts erlaubte uns der Trainer
eine
Ruhepause. Wir
saßen im Kreis auf der Matte und durften
alle Fragen stellen, die
uns beschäftigten.
"Was
ist Judo und was ist Jiu-Jitsu?"
fragte ein Teilnehmer. "Judo ist entschärftes Jiu-Jitsu. -
Während Jiu-Jitsu als reine Selbst- verteidigung
gilt, stellt Judo
einen Wettkampfsport dar, aus dem alle
unkontrollierbaren Würfe,
Hebel und Griffe herausgenommen wurden."
"Ist Judo ein
Leistungssport?" fragte ein älterer Teilnehmer.
"Judo wird
sowohl als Leistungssport wie auch als Breitensport betrieben.
Wir
geben jedem die Chance, eines Tages zu den Landesbesten zu
gehören,
möchten aber keineswegs den vielen begeisterten Judoka,
die aus
zeitlichen oder sonstigen Gründen nicht an Wettkämpfen
teilnehmen
können, etwas Zweitrangiges anbieten.
Jeder wird das
bei uns finden, was er sucht."
"Was
bedeutet Judo und wann kam Judo eigentlich auf?"
"Ju heißt sanft, nachgebend. Do bedeutet Weg, Prinzip. Es gibt
viele Auslegungen; ich persönlich würde
Judo als "Weg der Anpassung"
bezeichnen. Nicht nur im
Sport, sondern auch im übertragenen Sinn,
denn der Alltag bietet
ständig Gelegenheit, sich judomäßig zu verhalten.
Der Begründer
des Judo ist Professor Jigoro Kano. Er wandelte die
Zweckform
Jiu-Jitsu in einen fairen Kampfsport und gründete 1882
in Tokio eine
Schule, die Weltruhm erlangte: den Kodokan. Von hier
aus eroberte
sein "Kodokan-Judo" alle Kontinente."
"Muß
man eigentlich,"
so fragte ein junger Teilnehmer, "die
japanischen Ausdrücke
lernen? Gibt es keine deutschen Bezeichnungen?" Der Ausbilder lächelte. "Mach dir keine
Gedanken darüber.
Bei uns werden keine japanischen Vokabeln gebüffelt.
Die japanischen
Begriffe bleiben genauso haften, wie die vielen englischen Wörter,
die du gebrauchst. Okay, Beat, Fan, Sit-In, Hearing, Life, HiFi,
Spray, Match usw. Gewiß gibt es auch deutsche Übersetzungen, aber
die japanischen Begriffe sind international verständlich."
"Hat
Judo erzieherischen Wert?"
fragte mein linker Nachbar.
"Jeder Sport hat erzieherischen
Wert. Dennoch nimmt Judo eine Vorzugsstellung ein; es erzieht den
Sportler nicht nur zur Fairness
und Selbstdisziplin - Judo
entwickelt im hohem Maße Selbstbewußtsein,
und viele Judoka und
ihre Angehörigen können bestätigen, dass dieser
Sport
lebenstüchtig macht. In vielen Ländern ist Judo heute schon als
Pflichtsport
an den Schulen eingeführt.
Hohe Regierungsbeamte, namhafte Pädagogen
und Ärzte empfehlen
Judo als eine der vielseitigsten und gesündesten
Sportarten."
"Welche
Bedeutung haben die Gürtelfarben?"
"Im Judo durchläuft
man eine Reihe von Stufen - vom Anfänger
über den Fortgeschrittenen
bis zum Meister. Während die Judomeister
schwarze und rot-weiße Gürtel tragen, zeigen die Gürtel der
Schüler anfangs helle, dann immer dunklere Farben: weiß, weiß-gelb,
gelb, gelb-orange, orange,
grün-orange, grün,
blau, braun. Jede bestandene Prüfung bringt den
Judoka einen Schritt voran.
Der Gürtel zeigt an, welchen
Leistungsgrad er erreicht hat."
.
|
|
.
.1.Trainingstag
von Lothar Nest am 3.Mai 1960 - Mittlere Reihe,
3.v.r.
Lothar Nest - untere Reihe 6.v.r.: Engelbert Dörbandt
.
Der "JC HATA e.V." war von 1960 - 1966 der erste Judoverein von
Lothar Nest. Er befand sich in der Kreuzberger Mariannenstraße und
zog im Sommer 1960 zur Urbanstraße, nahe Blücherstraße.
.
|